Seit dem 7. Oktober 2023 erleben wir in Deutschland eine Eskalation der Repression gegen die Palästina-solidarische Bewegung. Josephine Solanki hat für das Transnational Institute einen umfangreichen Bericht über diese Entwicklungen verfasst. Im Gespräch erklärt sie, warum die BRD in eine „autoritäre Verschiebung“ rutscht, wie Polizei, Gesetze, Medien und Migrationspolitik hier zusammenspielen – und wie sehr Deutschlands bedingungslose Unterstützung für Israels Kriegspolitik die eigenen Grundrechte aushöhlt.
etos.media: Morgen ist der internationale Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Seit dem 7. Oktober 2023 erleben wir in der BRD eine Eskalation der Repression gegen die Palästina-solidarische Bewegung. Du hast für das Transnational Institute einen ausführlichen Bericht zum Thema verfasst. Was steht drin?
Josephine Solanki: Die zentrale Aussage des Berichts ist, dass Deutschlands Unterstützung für Israels Völkermord in Gaza mit zunehmender Repression gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung in Deutschland einhergeht. Und dass diese Repression Deutschland immer mehr in Richtung eines autoritären Staates verschiebt – denn wenn autoritäre Maßnahmen und Praktiken einmal etabliert sind, werden sie nicht nur gegenüber einer vulnerablen Gruppe oder einem einzelnen politischen Themenkomplex angewendet. Zu diesen Maßnahmen gehören nicht nur Demonstrationsverbote und Polizeigewalt, sondern auch Hetzkampagnen, Ausladungen von kulturellen Veranstaltungen, Repressalien am Arbeitsplatz sowie die Instrumentalisierung des Migrations- und Asylrechts. Insgesamt führt das dazu, dass in Deutschland beinahe jede Form wirksamer Solidarität mit Palästina kriminalisiert wird und umfassendere bürgerliche Freiheiten eingeschränkt werden. Der Bericht umfasst den Zeitraum der ersten 18 Monate des Völkermords – vom 7. Oktober 2023 bis Ende April 2025. Er beruht auf Interviews mit Aktivist*innen und einer Analyse der rechtlichen und politischen Situation. Außerdem habe ich mir die Rolle der Medien, der sozialen Bewegungen in Deutschland – etwa der Klimabewegung – und der politischen Linken angeschaut und analysiert, warum sie weitgehend still geblieben sind.
Übrigens wird es am 9. Januar 2026 um 18:30 auch ein Launch-Event für den Bericht geben, und zwar im bUm in Berlin-Kreuzberg. Dort kann sich dann jede*r selbst ein Bild vom Inhalt machen.
etos.media: Du schreibst ausführlich über Polizeigewalt gegen Palästina-solidarische Personen. Was ist los auf deutschen Straßen, insbesondere in seiner Hauptstadt?
Josephine Solanki: Polizeigewalt, insbesondere gegen rassifizierte und palästinasolidarische Personen, ist natürlich nichts Neues in Deutschland. Aber seit dem 7. Oktober 2023 hat sie deutlich zugenommen und sie wird von politischen Eliten – und leider auch vom Großteil der Gesellschaft gebilligt. Der Eindruck wird erzeugt, als würde die Polizei lediglich auf angebliche Gewalt aus der Bewegung reagieren, die in den Medien fälschlicherweise als extrem gefährlich dargestellt wird. Die Polizei hatte also faktisch eine Art Freifahrtschein, weil sie wusste, dass sie für das, was sie tut, noch weniger zur Rechenschaft gezogen wird als sonst. Im Gegenteil, sie wurde oft sogar noch gelobt, etwa vom Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU), der sich nach den Demos regelmäßig für die Arbeit der Polizei bedankt.
Aktivist*innen berichteten von massiver, oft völlig unprovozierter Polizeigewalt: Tritte und Schläge in Bauch, Kopf oder Unterleib, Schmerzgriffe, Würgegriffe, Knochenbrüche, der willkürliche Einsatz von Pfefferspray, die Verweigerung medizinischer Hilfe für bewusstlose Menschen, die teilweise stundenlang auf der Straße liegen gelassen wurden. Und das sind bei weitem nicht alle Beispiele. Oft kam es zu Situationen, in denen Demonstrationen wenige Minuten vor Beginn aus den fadenscheinigsten Gründen plötzlich verboten wurden. Das nutzte die Polizei dann als Vorwand, um sie gewaltsam aufzulösen. In den ersten zehn Tagen nach dem 7. Oktober gab es in Berlin ja faktisch eine Art Demonstrationsverbot für palästinasolidarische Gruppen, und Teile von Neukölln und Kreuzberg waren richtiggehend militarisiert, es gab systematisches Racial Profiling.
Die Menschen, die Opfer von Polizeigewalt werden, bekommen dann zusätzlich oft noch Verfahren aufgebrummt, in denen behauptet wurde, sie hätten zuerst Gewalt ausgeübt. Es gibt inzwischen Recherchen von investigativen Journalist*innen zu einigen dieser Fälle, die ganz klar zeigen, dass die Polizei oft einfach lügt, wenn es darum geht zu klären, von welcher Seite die Gewalt ausgegangen ist. Praktische Konsequenzen hatte das bisher aber kaum, auf Seiten der Polizei wird niemand zur Verantwortung gezogen. Und die Betroffenen müssen nicht nur mit den körperlichen und psychischen Folgen dieser Gewalt leben, sondern zusätzlich auch mit den juristischen Konsequenzen der Verfahren, was für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft zum Teil existenzbedrohend ist.
etos.media: Kannst Du bitte noch ein, zwei konkrete Beispiele nennen, über die ihr berichtet?
Josephine Solanki: Auf jeden Fall. Da erinnere ich mich an eine palästinensische Aktivistin, die ich in dem Report Jamila nenne und die in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln wohnt. In den ersten zehn Tagen nach dem 7. Oktober 2023 wurde sie täglich mit Polizeikontrollen und Racial Profiling konfrontiert. Sie haben ihr und ihrer Community gesagt, wo sie sich aufhalten dürfe und wo nicht, welche Straßen gerade gesperrt seien, was sie anziehen könne und was nicht. Sie haben zum Beispiel kleinen Kindern nicht erlaubt, T-Shirts zu tragen, auf denen „I stand with Palestine“ stand. An einem Nachmittag war sie auf dem Heimweg, als die Polizei sie mal wieder ohne Grund angehalten hat. Die Polizisten schickten sie von einer Straße in die nächste, ohne dass sie ihr Ziel erreichen konnte. Irgendwann schrie sie dann entnervt zurück, so etwas wie: „Hört endlich auf, den Leuten zu sagen, wo sie hingehen sollen.“ Daraufhin hat die Polizei Jamila zusammengeschlagen und verhaftet, und der Fall ging später vor Gericht. Dort wurde sie schuldig gesprochen, weil sie – eine kleine, schmale Frau – angeblich mehrere Polizisten verprügelt haben soll. Der Richter sagte, die aggressive Art der Verhaftung sei völlig angemessen gewesen. Jamila ist jetzt in Berufung gegangen.
Es gibt natürlich tausende solcher Fälle. Ich würde vielleicht noch Udi Raz zitieren, eine jüdische Aktivistin vom Verein Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost, die viel Polizeigewalt erlebt hat und die Absurdität des Ganzen im Interview gut auf den Punkt gebracht hat:
„Nur damit du eine Vorstellung davon bekommst, wie es ist, heute in Deutschland Jüdin zu sein, wo alle dich beschützen wollen, indem sie dich im Prinzip mundtot machen, dich verprügeln und alles tun, damit du dich im öffentlichen Raum Deutschlands nicht sicher fühlst. Und dann sagen sie, das alles geschehe im Namen des Antisemitismus.“
etos.media: Auf welchen anderen Ebenen erleben wir Repressionen gegen die Palästina-solidarische Bewegung?
Josephine Solanki: Es gibt die politisch-rechtliche Architektur, die durch die Verschärfung verschiedener Gesetze, neue Resolutionen und zunehmende Überwachung, Kriminalisierung und strafrechtliche Verfolgung dafür sorgt, dass der Preis, den man für politisches Engagement für Palästina bezahlen muss, immer höher wird. Es wird geschätzt, dass in den letzten zwei Jahren 12.000 Strafverfahren gegen Aktivist*innen eröffnet wurden. Viele davon werden nie zu einer Verurteilung führen, aber darum geht es auch gar nicht – sondern um Einschüchterung. Außerdem gibt es wirtschaftliche Repression gegen Aktivist*innen, weil wir sehen, dass Menschen wegen ihres politischen Engagements zum Teil ihre Jobs und damit ihren Lebensunterhalt verloren haben, oder kleinen Vereinen die Gelder gestrichen wurden. Für Menschen, die im Kulturbereich, in Nichtregierungsorganisationen oder im Bildungssektor arbeiten, spielt der drohende Entzug staatlicher Fördermittel eine große Rolle.
Und ein extrem wichtiger Punkt ist die Instrumentalisierung des Migrations- und Asylrechts gegen Aktivist*innen, was ja auch so in einer der Bundestagsresolutionen gefordert wurde. Die Bewegung ist naturgemäß sehr migrantisch geprägt, und viele Menschen, die sich dort engagieren, haben keinen deutschen Pass. Somit hat der Staat ein sehr wirksames Druckmittel, wenn er beispielsweise mit Ausweisung droht, Asylverfahren wieder aufrollt, die beantragte Einbürgerung doch nicht gewährt oder bereits vergebene Staatsbürgerschaften sogar wieder entzieht.
etos.media: „Es gibt keinen Grund mehr, jetzt für Palästinenser in Deutschland zu demonstrieren“, sagte Kanzler Merz nach dem sogenannten „Waffenstillstand“ in Gaza Anfang Oktober. Eine derartige Anmaßung seitens des Regierungschefs lässt auf ein gestörtes Demokratieverständnis schließen.
Josephine Solanki: Ich wünsche normalerweise niemandem etwas Schlechtes, aber ich glaube, Herr Merz wäre gut beraten, mal ein paar Tage im Gazastreifen zu verbringen, ohne sicheren Zugang zu Nahrung, Wasser, Obdach oder medizinischer Versorgung. Im Prinzip also ohne die Möglichkeit, irgendein menschliches Grundbedürfnis befriedigen zu können. Und das unter ständiger israelischer Bombardierung, denn diese dauert ja immer noch an. Und selbst dann könnte er den vollen Effekt einer seit Jahrzehnten andauernden kolonialen Besatzung nicht begreifen, die von seiner deutschen Regierung munter militärisch, politisch und finanziell unterstützt wird.
Ich glaube nicht, dass wir uns in einer Demokratie vor dem Kanzler dafür rechtfertigen sollten, warum wir für oder gegen irgendetwas demonstrieren – und schon gar nicht, wenn es darum geht, Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Und die sitzen sowohl in Israel als auch in Deutschland.
etos.media: Im Bericht setzt du Polizeigewalt und Repression gegen die Palästina-solidarische Bewegung in einen größeren Kontext der „autoritären Verschiebung“ in der BRD. Welches Bild zeichnet der deutsche Staat von sich anno 2025?
Josephine Solanki: Die repressiven Maßnahmen richten sich im Moment noch gegen eine der vulnerabelsten und am stärksten marginalisierten Gruppen der Gesellschaft, und das ist an sich schon schlimm genug. Aber es wird nicht immer so bleiben. Sehr schnell können diese Maßnahmen auch gegen andere unliebsame politische Gruppen eingesetzt werden. Ich glaube, dass es den politischen Eliten im Moment vor allem um Kriegsvorbereitung geht. Wir beobachten eine wachsende Militarisierung der Gesellschaft, und dafür sollen die Menschen auf Linie gebracht werden. Es braucht ein klares Feindbild, einen wiederentfachten Nationalstolz. Das Konzept, Menschen, die sich gegen diese Aufrüstung stellen, als „Volksverräter“ zu verunglimpfen, wird langsam, aber sicher wieder salonfähig. Ich glaube, die Maßnahmen, die jetzt gegen die Palästinabewegung eingesetzt werden, dienen unter anderem auch einem autoritären Staatsumbau, der in Kriegszeiten keinen Widerstand und keine kritischen Stimmen mehr dulden wird.
etos.media: Deutschland ist selbsternannter „Aufarbeitungsweltmeister“. Den Umgang mit eigenen Menschheitsverbrechen derart ins Zentrum der staatlichen Identität zu stellen, ist in der Tat ein recht ungewöhnliches Verhalten von Staaten. Wo ist die Verbindung zwischen „Nie wieder“ und der eskalierenden Repression, die wir aktuell beobachten?
Josephine Solanki: Heutzutage erscheint uns die Aufarbeitung fast wie eine logische, unausweichliche Konsequenz des Holocausts, aber das war sie nicht. Interessanterweise ist Westdeutschlands Unterstützung für den Staat Israel viel älter als die sogenannte „Erinnerungskultur“. Deutschland war in der Nachkriegszeit über Jahre hinweg der wichtigste Unterstützer des israelischen Staates, und das war meiner Meinung nach vor allem von geostrategischen Interessen geprägt. Die Bundesrepublik wollte sich in den Augen der westlichen Welt, angeführt von den USA, rehabilitieren, und die USA brauchten Israel als verlässlichen Vorposten im rohstoffreichen Nahen Osten.